Jahresanfangsfigur



Seine Exzellenz, der alte Herr Staatsminister und Geheime Rat Johann Wolfgang v. Goethe, hätte sich wohl freundlich neben dieses junge, schöne Geschöpf in den Kissen hingelagert, und extemporiert ...


Zum neuen Jahr 


Zwischen dem Alten,
Zwischen dem Neuen
Hier uns zu freuen,
Schenkt uns das Glück,
Und das Vergangne
Heißt mit Vertrauen
Vorwärts zu schauen,
Schauen zurück. 


Stunden der Plage,
Leider, sie scheiden
Treue von Leiden,
Liebe von Lust;
Bessere Tage
Sammeln uns wieder,
Heitere Lieder
Stärken die Brust. 


Leiden und Freuden,
Jener verschwundnen,
Sind die Verbundnen
Fröhlich gedenk.
O des Geschickes
Seltsamer Windung!
Alte Verbindung,
Neues Geschenk! 


Dankt es dem regen,
Wogenden Glücke,
Dankt dem Geschicke
Männiglich Gut,
Freut euch des Wechsels
Heiterer Triebe,
Offener Liebe,
Heimlicher Glut! 


Andere schauen
Deckende Falten
Über dem Alten
Traurig und scheu;
Aber uns leuchtet
Freundliche Treue;
Sehet, das Neue
Findet uns neu. 


So wie im Tanze
Bald sich verschwindet,
Wieder sich findet
Liebendes Paar;
So durch des Lebens
Wirrende Beugung
Führe die Neigung
Uns in das Jahr. 


Wenn man diese Verse liest, geht einem (und sogar dem "Bildungsfernen") wohl ein Begriff von der Größe dieses Mannes auf. Ein bloßes Gelegenheitsgedicht*), und doch: solche Vollendung! Möge das Bild, möge das Gedicht für uns alle, für die ganze Welt ein gutes Omen für das Neue Jahr bedeuten ...



-----------------------------



*) Goethe hatte am 28. Oktober 1801 das "Mittwochskränzchen" gegründet, dessen Mitglieder sich alle 14 Tage in seinem Haus versammeln: Goethe, Schiller und seine Frau Charlotte, Wilhelm und Karoline von Wolzogen, Meyer, Einsiedel, Amalie von Imhoff, Frl. von Göchhausen, Frl. von Wolfskehl, Henriette Gräfin von Egloffstein, Hauptmann von Egloffstein, sowie Hofmarschall von Egloffstein und Frau.

Kommentare