Ziegel im Hals

von Fragolin

Heute mal, wie andernorts angekündigt, etwas ganz unpolitisch Belangloses.
Alle Jahre wieder komme ich in die angenehme Situation, mir zum Zwecke der Vertreibung einer saftigen Angina Antibiotika-Tabletten aus der Apotheke holen zu müssen. Und jedes Jahr aufs Neue muss ich sie nicht nur holen, sondern auch irgendwie in meinen Magen bekommen. Und immer wieder bin ich erstaunt, dass diese Dinger den Namen „Tablette“ tragen, und nicht etwa „Barren“.
Guten Tag, mein Arzt hat mir zehn Barren Antibiotika verschrieben. Passen die in meinen Kofferraum oder muss ich den Hänger holen?“

Warum muss man ausgerechnet dann, wenn man südlich der Zunge nur noch aus geschwollenen rohen Fleischklumpen mit darübersuppendem Eiter besteht, eine Tablette durch diesen Engpass würgen, die sich von einem handelsüblichen Brikett eigentlich nur in der Farbe und dem Brennwert unterscheidet? Wieso verteilt man ein paar Milligramm Medizin in einem gesinterten Barren aus einem halben Kilo Sölktaler Marmorstaub, der die Konsistenz eines mit Hand aus der Steilwand gemeißelten Kreidebrockens hat und den man auf keinen Fall auflösen, zerteilen, zerkleinern oder auch nur anritzen darf sondern immer und grundsätzlich im Stück in den Magen befördern muss? Wo er dann was tut? Richtig, zerkleinert werden und sich auflösen.

Man muss unbedingt vermeiden, dass der Klumpen bereits vorzerkleinert in den Magen kommt, denn sonst… äh, was eigentlich? Wird das Zeug wirkungslos? Entwickelt es Gifte? Kann es mit der Magensäure zu chemischen Reaktionen kommen, die zu Flammenbildung oder Explosion führt?
Herr Inspektor, was hatte der Mann, warum wurde er so schrecklich zugerichtet?“
Die Forensik hat herausgefunden, dass er Antibiotika nehmen musste!“
Er hat doch nicht etwa…?“
Doch. Leider. Er hat seinen Morgenbarren in einem Fass warmen Salbeitee zu Schlamm aufgelöst und diesen dann gelöffelt, und das, wo doch jeder weiß, dass Salbei die Detonationswirkung verstärkt!“

Ich vermute ja, da sitzen in den Chefetagen der Pharmakonzerne Sadisten, die sich am inneren Bild weiden, wie der Patient mit bläulich aufgedunsenem Gesicht röchelnd an einem solchen Folterklumpen würgt und verzweifelt versucht, mit dem dafür erlaubten Schluck Wasser das Ganze herunterzuspülen – als ob man, das kann jeder gerne an seinem Klo ausprobieren, durch das Drücken der Spülung einen Ziegelstein durch den Traps befördern könnte!

Jaja, ich weiß, dass ist das Nörgeln des alten weißen Mannes. In meiner Jugend war das noch spaßiger, da kam der Arzt bei Mandelentzündung, die entgegen der heutigen Angina hoch fiebrig verlief, mit der aufgezogenen Spritze zum Hausbesuch.
Über diese Spritze sollte man wissen, dass allein die aufzuwendende Kraft beim Verabreichen so groß war, dass Metallringe zum Führen der Finger des Arztes (Frauen, die nicht mindestens über die Statur einer Brienne von Tart oder Betty Heidler verfügten, waren damals für den Job körperlich noch nicht geeignet) angebracht waren und die Nadel glich eher einem Rohr mit dem Kaliber einer sibirischen Erdgasleitung. Und nein, sie wurde nicht in den Arm verabreicht sondern weiter südlich und gewissermaßen heckorientiert. Da, wo man bei Rennwagen zu recht den Spoiler vermutet. Mit heruntergezogener Hose bäuchlings über den Knien seines Vaters zu liegen war in diesen Zeiten nie ein Vorbote des Guten, aber wenn der Arzt anwesend war, dann bekam das einen ganz besonderen Beigeschmack.

Auch da erschließt sich mir nicht, warum wenige Milligramm Antibiotikum in einem ganzen Fass voller dickflüssiger Emulsion aufgelöst wurden, an dessen unterem Ende man ein Stück Stahlrohr, vorne schräg abgeflext, angeschraubt hatte, das euphemistisch als „Kanüle“ bezeichnet wurde. Das Einrammen dieser Kanüle in die Heckbereiche erfolgte ja besonders gerne dort, wo es knochig ist, und nicht, wo die Natur in weiser Kenntnis der Erziehungsmethoden jener Zeit einen Polster hat wachsen lassen.

Die Mandelentzündungen meiner Kindertage nahmen ab, als meine Mandeln sich weigerten, sich noch einmal zu entzünden. Zu brutal waren die Heilungsmethoden und Hausmittel, besonders der unbedingt brühend heiße Zitronensud, der ohne Gnade durch einen faktisch rohen Rachen gespült wurde und das eitrige Fleisch mit glühender Säure ausbrannte, machte es für die Mandeln praktisch zur Überlebensfrage, das Entzünden selbst bei massivem Bakterienbefall zu vermeiden. Die unter heißen Wickeln stechend pulsierenden walnussgroßen Lymphknoten unterstützten das Ansinnen. Warum bei einer eitrigen Entzündung das Einzige, was den Schmerz potenziert, nämlich erhitzen und mit heißer Säure übergießen, damals zur bejubelten „Hausmedizin“ gehörte, weiß ich nicht, aber ich glaube, das war eine Verschwörung der Pharma-Industrie, die damit einen solchen Horror vor Hausmitteln verbreitete, dass jeder nur noch glücklich ihre Briketts schluckte.

Leider bin ich inzwischen nicht mehr der Jüngste und es setzen erste Demenzerscheiningen ein. Zumindest vereinzelte Organe vergessen ihre schlimmen Erinnerungen und vielleicht haben sie auch mitbekommen, dass die Foltermethoden meiner Großmutter inzwischen nicht mehr angewandt werden. Oder sie sind einfach zu schwach geworden, um den Bakterien weiter so tapfer widerstehen zu können wie bisher. Jedenfalls kommt es in den letzten Jahren allwinterlich wieder zu Mandelentzündungen. Auch dieses Jahr hat mich also die Angina wieder im Griff.

Vielleicht erlebe ich noch den Tag, an dem mir in der Apotheke kleine Pillen gegen dieses Grauen ausgehändigt werden, doch bis dahin werde ich versuchen, den zweimal täglichen Erstickungsversuch durch einen Ziegelstein im Hals zu überleben.

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