Zu Lebzeiten fast unbekannt – und heute fast vergessen

von LePenseur
 
 
Auf diese kurze, deprimierende Formel könnte man das Werk des britischen Komponisten Havergal Brian, der heute vor 50 Jahren hochbetagt verstarb, bringen — und übersähe dabei dennoch das Wesentliche: in der gesamten Musikgeschichte gibt es keinen einzigen auch nur annähernd ähnlichen Fall von Altersproduktivität, wie bei diesem Komponisten! Ist es schon in Zeiten nach Beethoven recht sensationell, wenn ein Komponist 32 (!) Symphonien schreibt — ich lasse einmal die permanente Lärmproduktion, die der große Dirigent Leif Segerstam als (weit weniger großer) Komponist mit der Bezeichnung »Symphonie« versieht und damit so zirka bei 350 »Symphonien« liegt, außen vor —, so ist es aber noch sensationeller, wenn ein Komponist im Alter von 75 Jahren gerade einmal (damit ganz in Beethovens Fußstapfen wandernd) seine 9. Symphonie fertiggestellt hat, und danach bis zu seinem 92. Lebensjahr die Nummern 10 bis 32 folgen läßt.

Es wäre nun eine Überforderung meiner geneigten Leser, hier auch nur den Versuch zu unternehmen, alle die Werke der Reihe nach zu präsentieren — zuviel verdirbt nicht nur den Magen, sondern auch das Ohr! So möchte ich mich auf sieben Symphonien beschränken, die die Entwicklung des Komponisten vom »spätestromantischen« Stil der Anfänge über kühne, die Grenzen der Tonalität streifende und brechende Werke des »mittleren« und des »frühen Altersstils«, hin zu der letztlichen Abgeklärtheit des Spätwerks verfolgbar machen.

Havergal Brians Symphonie No. 1, »The Gothic«, entstanden 1919-1927, ist ein überbordendes Werk in der Tradition von Mahlers Achter Symphonie, mit noch gigantischerer Besetzung von Orchester und Chören, und einer Länge von knapp zwei Stunden, gewidmet dem »geliebten Freund und Meister Dr. Richard Strauss«. Ein kühnes Werk von unbestreitbarer Größe des Wurfes, wenn auch in manchen Details noch etwas unsicher tastend, von Vorbildern wie Mahler, Brahms, Bruckner und natürlich Strauss abhängig. Dennoch: ein vielversprechender Wurf, zwar kaum geeignet für ein »normales« Orchesterkonzert, aber dank des »Content-Hungers« der CD-Industrie inzwischen in mehreren Versionen vorhanden und mit Gewinn anhörbar:


Nur wenige Jahre nach der Fertigstellung der »Ersten« zeigt die Symphonie No. 4, »Das Siegeslied«, (aus 1932/33) eine interessante Mischung aus Mahlers Spätstil, Pfizners spröden Chorkantaten, beginnender »Moderne« jener Tage, neoklassischen Elementen mit an Händel-Barock gemahnenden Bläserfanfaren und polyphonen Chören — eine manchmal etwas verwirrende, aber insgesamt doch recht beeindruckende Stilmischung:


Eine völlige Neuorientierung kommt freilich schon mit der nächsten, der Symphonie No. 5 »The Wine of Summer«, für Bariton und Orchester — der Unterschied zum vorigen Werk könnte nicht größer sein:


Es ist eigentlich eine ausgewachsene Kantate für Bariton und Orchester (und ursprünglich auch als solche bezeichnet), basierend auf einem Text von Lord Alfred Douglas. Im (höchst lesenswerten!) Youtube-Kommentar zu dieser Symphonie findet sich der diskrete Hinweis:
Lord Alfred Bruce Douglas was a British poet, better known as the friend and lover of Oscar Wilde.
Habent sua fata carmina ... 
 
Ein Sprung aus den späten 30er- in die Mitte der 50er-Jahre zur Symphonie No. 11 in b-moll (1954): Der Komponist zählte damals bereits 78 Jahre und stand, wie die nuancierte Orchesterbehandlung und die zwanglosen Übergänge und Fortentwicklung von Themen erkennen lassen, ganz auf der Höhe seines Könnens:


Der (wieder lesenswerte) Youtube-Text sieht im eröffnenden Adagio Verbindungen zu Mahler und Schostakowitsch — worüber man aber das typisch »Brianeske« dieser Musik nicht überhören sollte. Daß in den von den Epigonen der »Zweiten Wiener Schule« ausgetrockneten Flußbeeten der Konzerte »moderner« Musik solch klangvolle, »saftige« Melodik nicht gelitten wurde goes without saying ...

Erstaunlich, daß Havergal Brian, von der snobistischen Negierung durch diese Kreise unbeeindruckt, kaum, daß er eine Symphonie fertiggestellt hatte, schon wieder mit der nächsten begann. Zugegeben: es sind kürzere Werke, diese Symphonien der späten 50er- und frühen 60er-Jahre, meist nur ungefähr eine Viertelstunde dauernd (am kürzesten ist die No. 22 mit etwas über neun Minuten, die ihrerseits der No. 21 folgt, die mit fast einer halben Stunde Dauer von ihnen die längste ist).

Sicher hörenswert mit ihren augenzwinkernden Rückgriffen auf Sir Edward Elgar und seinen — typisch britisch gleichzeitig auftrumpfenden und understated rüberkommenden — Pomp ist Brians Symphonie No. 15 aus dem Jahr 1960:


Bisweilen ist die Produktivität des Komponisten fast beängstigend — und sicherlich mit dem Begriff »zwanghaft« nicht ganz unberechtigt umschrieben: ein paar Symphonien weniger in diesen 1960er-Jahren hätten dem Œuvre des Meisters nicht geschadet ...

Havergal Brian stand wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag, als er seine Symphonie No. 25 in a-moll vollendete, die ihn in ungebrochener Schaffenskraft brillieren läßt:


Zwei Jahre nach dem vorigen Werk entstand 1968 die Symphonie No. 32 in As-dur (Anm.: die meisten Symphonien Havergal Brians tragen, ganz der Mode jener Jahrzehnte entgegen, Tonartenangaben):


Es war sein letztes Werk, danach verstummte der Greis und zog sich , wie er einmal bemerkte, in die Stille zurück, die er so sehr liebte. Sie war ihm nach so vielen Jahrzehnten rastloser kompositorischer Tätigkeit auch von Herzen zu gönnen. 
 
Heute vor fünfzig Jahren, am 28. November 1972, starb Havergal Brian, der Zeit seines Lebens ein fast unbekannter Außenseiter der britischen »Musikszene« geblieben war, trotz einiger Versuche von treuen Verehrern, ihn dem Publikum besser bekannt zu machen. Nach seinem Tod hat sich daran nicht viel geändert ...
 
Die Leser dieses Artikels (und hoffentlich auch Hörer der verlinkten Videos) sind eingeladen, nicht nur das symphonische Werk, dem im Schaffen Havergal Brians sicher der Schwerpunkt zukommt, selbst zu erkunden, sondern auch die Konzerte, Ouvertüren, Symphonischen Dichtungen, die Musik zu Goethes Faust etc. etc. — es lohnt sich!

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