von Helmut
Aufgrund einer eineinhalb-wöchigen Reise in privater Mission möchte ich eine Art von Resümee ziehen.
Meine Tochter in Deutschland, die den 50er feierte, und meine Schwester in Niederösterreich, die mit dem 60er dran war, und das jeweils am Wochenende. Dazwischen lagen mehrere Tage, und die nutzte ich zu Besuchen meiner anderen Kinder, Freunde und Kommilitonen.
Auch liebe Leute und gute Freunde aus der früheren Zeit, die ich schon seit 10 oder sogar 20 Jahren nicht mehr besucht resp. gesehen hatte. Nun ergab sich die Möglichkeit dazu, in der Gesamtzahl waren es 15 Stationen, die ich zu bewältigen hatte.
Schön, das alleine wäre eigentlich keinen Artikel wert, das betrifft vorwiegend den persönlichen Bereich. Aber im Nachklang geht es mir um den Inhalt der Gespräche, um all das, was mich nachdenklich gemacht hatte.
Und genau das, so denke ich mir, ist ein Thema, mit dem sich eben diese Gruppe der 70plus auseinandersetzen sollte und vielleicht ebenso die anderen Jahrgänge darunter.
Naturgemäß sind die ehemaligen Kommilitonen, die Verbindungsbrüder allesamt im ähnlichen Alter wie man selbst ist. O.k., nach den familiären Nachfragen sowie dem Stand der Gesundheit ging es an die gemeinsamen Erinnerungen. Und genau da begann sie - die Nachdenklichkeit.
Warum: Zu vieles haben wir gemeinsam erlebt, aber in einer ganz anderen Zeit.
Um es abzukürzen, will ich die wichtigsten Punkte festhalten:
Wir, die 70plus müssen unserem Herrgott auf Knien danken, dass wir in einer Zeit unsere Jugend genießen durften, die weder die Generationen davor, noch die Generationen danach erleben konnten. Das Jahrzehnt 1970 – 1980, vielleicht auch noch ein paar Jahre danach, das war in der europäischen Geschichte einzigartig. Freiheit pur, in fast jedes Land konnte man reisen und sich niederlassen, ohne Bedingungen und Bürgschaften. Geld haben wir verdient, - mehr, als wir ausgeben konnten, man konnte nach vorne schauen, man konnte sich ein Ziel setzen und war sich sicher, das auch mit dem dazugehörigen Willen durchsetzen und erreichen zu können. Wir lebten im Gefühl der Sicherheit.
Wenn ich daran denke, dass ich in den Semesterferien, während des Studiums in Deutschland, als Fernfahrer 2.600 DM netto in der Hand hatte (1974), in der Lohnsteuerklasse I/0 (ledig, ohne Kinder), also mit den höchsten Abzügen, dann kann man sich ungefähr ausrechnen, was das heute wäre.
Wir waren zu dritt damals als Kommilitonen in Mannheim, und jedes Wochenende fuhren wir woanders hin: zum Kaffee trinken nach Innsbruck, zum Mittagessen nach Amsterdam, usw. Wir waren zu dritt und haben uns beim Fahren abgewechselt, - Entfernungen spielten für uns keine Rolle.
Geld war dazu da, um es auszugeben.
Ja, in Deutschland war damals Schmidt-Schnauze an der Regierung. Nicht alles hat er optimal geregelt, aber das meiste mit Sicherheit besser als die Kanzler heute. Auch über Kreisky kann man lästern, - aber so einen Sch***, der heute zelebriert wird, hätte er sicher nicht gemacht.
1977 habe ich die erste Firma gegründet - im Garten-und Landschaftsbau, mit einer Null am Konto, mit einer Wasserwaage, einer Schubkarre und einer Schaufel. Drei Jahre später hatte ich 11 Beschäftigte.
Heute wäre so etwas unmöglich.
Das ist der Rückblick - doch nun zur Gegenwart:
Was hinterlassen wir unseren Kindern und unseren Enkeln? Ein politisches Chaos, eine Situation, die im Vergleich zu den damaligen Verhältnissen nur ein Kopfschütteln hervorruft. Und nun kommt die nüchterne Erkenntnis auf die Frage, wer denn daran die Schuld trägt, und die Antwort ist einfach:
Wir, die Generation 70plus ist schuld daran.
Denn wir haben das alles zugelassen, wir haben geschwiegen, niemand von uns hat gesagt, "Stopp, das geht so nicht mehr weiter, das muss nun anders werden". Wir haben darauf gesetzt (oder darauf gehofft), dass diejenigen, die an der Macht sind, soviel Verstand besitzen, um alles in die richtigen Bahnen zu lenken. Wir haben uns darauf verlassen, und zwar in unserer eigenen bequemen Trägheit. Nun ja, "Und wenn etwas nicht so wird, wie es sein soll. Dann werden wir das mit der nächsten Wahl korrigieren". Ein einzigartiger Selbstbetrug!
Henryk Broder, der bekannte kritische Journalist, hat das einmal treffend benannt. Als er mit einer Gruppe kritischer junger Leute über die Zeit des NS-Regimes diskutierte, als sich öfters die Frage stellte, wie denn damals so etwas möglich gewesen wäre, ohne Gegenwehr in der Bevölkerung, dass sich das alles so entwickeln konnte, - da meinte er als Antwort – mit Fingerzeig auf die Diskussionspartner:
Ganz einfach: Weil sie damals so waren, wie ihr heute seid!
Er hat damit mehr als recht. Denn auch wir, die Generation 70plus, war nicht anders. Auch wir haben gerufen: „Wehret den Anfängen!“, aber wir haben nur in eine Richtung gesehen. Die Meinung von Ignazio Silone haben wir nicht verstanden, als er sagte:
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‹Ich bin der Faschismus›. Nein, er wird sagen: ‹Ich bin der Antifaschismus›.
Und so hat es sich weiterentwickelt. Dass die ursprünglich grüne Friedenpartei sich zur Kriegspartei entwickelt hat, dass man mit Waffenlieferungen zum Frieden beitragen will, obwohl es in der Weltgeschichte kein einziges Beispiel gibt, wo das funktioniert hat, - wir haben das hingenommen und uns nicht dagegen gewehrt.
Es ist und bleibt unsere Schuld, egal, wie wir das auch schönreden wollen, und diese Schuld werden wir eines Tages in unser Grab mitnehmen.
Was können wir jetzt noch tun:
Zweierlei. Zum einen sollten wir die junge Generation darüber aufklären und darüber erzählen, wie das Leben damals war, in unserer Jugendzeit. Der Hund, der mit der Kette am Hals geboren wurde, kann nicht wissen, was Freiheit ist. Auch die Jungen können nicht wissen, welche politischen Verhältnisse damals herrschten, und um was man sie heute betrogen hat. Aber sie sollen es wissen.
Zum anderen sollten wir als diejenigen, die noch den Unterschied kennen, den Finger in die Wunde legen. Wir haben keine beruflichen Verpflichtungen, kein Finanzamt am Hals, wir haben keine Risiken zu bewältigen. Wir können uns jederzeit erlauben, den Mund aufzumachen, solange das überhaupt noch geht. Wir sollten uns in der Gesellschaft kritisch einbringen, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, das eine oder andere noch „reparieren“ zu können, dort wo etwas im Argen liegt.
Es ist kein Hobby, keine Spinnerei, - es ist eigentlich nicht mehr als das minimale Interesse daran, dass es die, die wir irgendwann einmal in die Welt gesetzt haben, es einmal besser haben sollen und wenigstens eine Basis zum Überleben besitzen, damit wir ihnen noch in die Augen schauen können.
Das war es, was ich aus der 4.000 Kilometer langen Reise mit nach Hause genommen habe. Und noch etwas zum Abschluss: Ich bin draufgekommen, dass man eigentlich nichts mehr verschieben sollte.
Gerade in einer Zeit, wo Leute um die 50 bereits "unerwartet" und "völlig überraschend" sterben.
Es ist viel sinnvoller, sich bei einem Glas Wein mit Freunden zu treffen, als einander immer nur am Friedhof zu begrüßen.
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